„Wir müssen uns nicht verstecken.“
Das Netzwerk und Innovationscluster automotive thüringen (at) ist der Ansprechpartner für die automobile Zulieferindustrie im Freistaat. Als Bindeglied zwischen Politik und Wirtschaft ebnet at neue Wege für
die 100 Mitgliedsunternehmen mit 30.000 Beschäftigten, erarbeitet zugeschnittene Weiterbildungsangebote und treibt gezielte Innovationen voran. Ein Gespräch mit Geschäftsführer Rico Chmelik über ein Grundnahrungsmittel, ein Kochbuch und das Aufspringen auf einen Boom-Zug.
Herr Chmelik, wie sind Sie zum Auto beziehungsweise, wie ist das Auto zu Ihnen gekommen?
Ich habe mich schon immer für Autos interessiert. Mein Vater hatte einen Trabant und einen Wartburg, da haben wir in Jena noch selbst Reparaturen durchgeführt. Autos waren wie ein Grundnahrungsmittel für mich, und so ist es auch heute noch. Ich finde es einfach hochspannend, wie ein Auto entsteht und gebaut wird. Meine heimliche Leidenschaft sind die britischen Sportwagen, ich sage nur: Aston Martin.
Hochspannend ist sicherlich auch Ihre Arbeit als Geschäftsführer des automotive thüringen.
Ja, wir sind mittendrin in einer spannenden Zeit mit einem Strukturwandel in der Automobilindustrie. Und dann kommt auch noch die Corona-Pandemie dazu. Es wird also nie langweilig. Unsere Aufgabe ist es, mit den Unwägbarkeiten umzugehen und Lösungen für unsere Mitglieder zu erarbeiten. Das ist unser tägliches Brot.
Wie viele Unternehmen betreuen Sie im Netzwerk?
Wir betreuen 100 Mitgliedsunternehmen, die mit ihren 30.000 Beschäftigten einen jährlichen Gesamtumsatz von 4,4 Milliarden Euro erwirtschaften. Die Thüringer Automobilbranche ist nach dem Handel und dem Freistaat Thüringen der größte Arbeitgeber im Land.
Der Freistaat hat 2018 eine Automotive Agenda aufgelegt. Was beinhaltet diese konkret?
Die Agenda gibt einen Rahmen, das Ziel und die Strategie vor, wie der Transformationsprozess bewältigt werden kann. Thüringen ist das einzige Bundesland mit einer solchen Agenda. Das Dokument ist wie ein Kochrezeptbuch, das jederzeit weiterentwickelt wird. Und wir geben auch unsere Zutaten mit rein.
Was sind das für Zutaten?
Die Zutat Innovation zum Beispiel – und zwar im Zusammenspiel mit den Unternehmen, weil es die ja am Ende betrifft. Da sind wir sehr schnell beim Thema „Vertrauen untereinander herstellen“. Wir bieten eine Vernetzungsplattformen, damit Kompetenzen sinnvoll miteinander geteilt werden können. Um zum Beispiel neue Produkte generieren zu können. Denn das schafft neue Wertschöpfung und neue Arbeitsplätze in Thüringen.
Sie sprechen von der E-Mobilität?
Nicht nur. Gemeint ist alles rund um das Thema Elektroniksoftware. Natürlich wird man immer einen Mechaniker brauchen, aber in Zukunft benötigen wir mehr Elektronik- und Software-Spezialisten. Und ein Batterieoperator braucht auch Kenntnisse aus der Chemie. Das hat also mit einem Blechbieger nichts mehr zu tun. Salopp gesagt müssen wir aus einem Eisenschmied einen Softwareschmied machen, und das am besten in 100 Tagen. Natürlich müssen die Leute auch Lust darauf haben, man muss die Veränderung und Umorientierung wollen und sich damit auseinandersetzen.
Hat sich die deutsche Automobilindustrie zu spät mit dem Thema E-Mobilität beschäftigt?
Beim Thema Batteriezellfertigung ist in den letzten Jahren einiges auf der Strecke geblieben. Jetzt hat man das Thema erkannt, in Münster entsteht ein Batterieinnovations-Zentrum. VW- Vorstand Herbert Diess sagt, dass die Batterie das Herzstück eines Automobils ist. Es hat die größte Wertschöpfung, deshalb darf man die Produktion nicht in fremde Hände geben. Die Frage ist, ob wir die Zeit, die uns da verloren gegangen ist, wieder aufholen können.
Aber ist es nicht schon zu spät, die Chinesen bauen am Erfurter Kreuz die größte Batteriefabrik Europas.
Wenn ich weiß, dass es in 15 oder 20 Jahren Millionen E-Autos geben wird, dann ist es nie zu spät, damit anzufangen. Im Moment sind bei der Batteriezellfertigung CATL, Samsung und LG sehr stark. Die haben die Nase vorn.
Wie hat Corona die Branche bisher verändert?
Corona hat im Bereich Elektromobilität sogar als Brandbeschleuniger gewirkt, dazu haben wir verschiedene Studien durchgeführt. In zwei bis drei Jahren wird jedes vierte in Europa gebaute Auto ein Stromer sein. Die Kehrseite ist der durch Corona entstehende Kostendruck, der natürlich auch auf unsere Zulieferindustrie durchschwappt. Das wird aber den E-Boom-Zug nicht aufhalten.
Ist Thüringen gut aufgestellt, um auf diesen Zug aufzuspringen?
Im Februar hatten 72 Prozent unserer Zuliefererbetriebe Aufträge für E-Fahrzeuge. Es gibt sogar einzelne Unternehmer, die sagen, das Thema ist fast schon durch. Die nächste Welle wird das vernetzte, autonome Fahren. Es sind völlig neue Fahrzeuggenerationen, die entstehen werden. Gerade der Antriebsbereich gerät natürlich massiv unter Druck. Aber die Bereiche Interieur und Elektrik, Elektronik haben ein unglaubliches Wachstumspotenzial. Deshalb wollen wir darauf in Zukunft mit unseren Innovationsprojekten noch mehr den Fokus legen. Zum Beispiel durch den Aufbau von Innovationsclustern in den Bereichen Interieur, kognitive Autos und Nutzfahrzeuge, um diesen Transformationsprozess zu begleiten. Das gab es bisher noch nie in Thüringen.
Was sollen die Cluster bewirken?
Den Aufbau von wertschöpfungsorientierten Lieferantennetzwerken. Als Einzelteillieferanten hat man ein größeres Risiko, ausgetauscht zu werden. Wir wollen deshalb mehr Modulfertigungen. Im Bereich des Interieurs werden gerade bei der Vitaldatensensorik spannende Innovationen auf den Weg gebracht. Es gibt Hersteller bei uns, die können in den Gurt Vitalsensoren einbauen, die Herzschlag, Sauerstoffsättigung usw. messen. Kombiniert mit den Bewegungsdaten des Fahrers können daraus individuelle Mobilitätsangebote erstellt werden. Damit wird in Zukunft auch Geld verdient. Und im Bereich der Nutzfahrzeugindustrie wird es für unsere Hersteller nicht nur durch die Elektrifizierung des Antriebsstranges, sondern auch durch Sonderaufbauten neue Absatzmöglichkeiten geben. Diese Szenarien unterstützen wir mit dem Innovations-Clustering.
Einige Experten befürchten aber auch, dass der Transformationsprozess zu Entlassungen führen könnte.
Unsere Tiefenanalyse hat ergeben, dass in Summe mehr Arbeitsplätze entstehen werden als wegfallen. Es entstehen bei uns neue Arbeitsplätze allein rund um den Wertschöpfungskern Elektromobilität, zum Beispiel bis zu 2.000 im Batteriezellfertigungswerk CATL, und auch bei Marquardt, Bosch, Nidec oder beim Fraunhofer-Institut IKTS entsteht neue Wertschöpfung. Firmen, die aktuell nur Antriebskomponenten herstellen, müssen sich fragen, wie sie ihre Kompetenzen in andere Branchen, zum Beispiel in die Ernährungstechnik, Medizintechnik, Luft- und Raumfahrttechnik transferieren können.
Aber woher sollen die ganzen Fachkräfte kommen, die Branche klagt schon seit Jahren über den Fachkräftemangel?
Wir nehmen das sehr ernst. Personalverfügbarkeit ist nach wie vor eine der größten Herausforderungen für die Unternehmen. Bei unserer Februar-Umfrage kam heraus, dass 40 Prozent der Unternehmen ihre offenen Stellen nicht besetzen können. Die Firmen entlang der Städtekette an der A4 haben weniger Sorgen. Für die anderen versuchen wir über Standortmarketing das Vertrauen in die Branche zu steigern und auch die Lust und Laune an einer Arbeit im Automobilbau zu wecken.
Also sehen Sie die Zukunft für das Automobil generell positiv? Einige wollen ja zum Beispiel das Auto gänzlich aus der Stadt vertreiben.
Natürlich. Das Thema Entlastung des urbanen Verkehrs ist sicherlich wichtig. Dazu haben wir Ende März eine Expertise vorgelegt für den Bereich der Nutzfahrzeugindustrie. Da gibt es tolle Ansätze. Ansonsten hängt das natürlich immer auch am politischen Willen. Man darf aber auch nicht vergessen: In Deutschland kommen auf 1.000 Einwohner 400 Autos. In China sind es 100. Da reden wir über ganz andere Wachstumsraten. Die Hersteller investieren Milliarden, weil sie an das Produkt Auto glauben. Das Auto wird immer Bestandteil einer zentralen Mobilität bleiben. Wie sich das fortbewegt, ob autonom, vernetzt und mit welchen Antrieben, das sind ganz andere Fragen.
Aktuell gibt es in Deutschland laut Kraftfahrt-Bundesamt mehr zugelassene „Trabis“ (38.173) als Teslas (34.000).
Im Ernst: Man darf die Fähigkeiten und die Kompetenzen, die auch die DDR-Automobil-Industrie hatte, nicht unterschätzen. Im Bereich des Leichtbaus war der Kompositwerkstoff, mit dem der Trabant gefertigt wurde, durchaus eine Innovation. Der war sehr leicht. Heute hat ein gehobener Mittelklasse-Pkw durchaus 600 Kilogramm Material für Dämmung, Isolierung und Karosseriestabilität in sich, das ist ein ganzer Trabant. Uns wurde zudem in vielen Gesprächen gesagt, die DDR-Ingenieure hätten viel mehr gekonnt, wenn sie gedurft hätten. In Thüringen ist die Automobilindustrie in über 120 Jahren gewachsen. Nach der Wende sind die Kompetenzen geblieben: Rund um Waltershausen im Bereich Gummi, in Gera im Lederhandwerk, in Erfurt bei der Halbleiterindustrie. Dazu kommen die optische Industrie in Jena und die Getriebetechnik in Gotha.
Deswegen lassen Aston Martin und Bentley in Thüringen produzieren.
Wenn solche namhaften Luxus-Hersteller wie auch Rolls Royce nach Thüringen kommen, dann tun sie das, weil hier eine hohe Qualität und Liefertreue vorhanden ist. Wir produzieren in Gotha, Gera oder Nordhausen für Aston Martin, wir haben in Bad Langensalza das größte Leichtmetallräderwerk in Europa. Wir liefern aus Gera Interieur-Systeme für Bentley und Lamborghini – und für das Papa-Mobil. Der größte Daimler-Motorenstandort ist in Kölleda. Es gibt noch viele andere Beispiele. Wir müssen uns also nicht verstecken aber wir müssen es besser nach außen kommunizieren. Ich weigere mich, Thüringen auf die vier Ws zu reduzieren, also Wald, Wurst, Weimar, Wartburg. Wir können weitaus mehr!
Herr Chmelik, vielen Dank für das Gespräch.
Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus, shutterstock