Zwischen den Welten
Anna Lysenko ist Russin, Pianistin, sie studiert Klavier und Freie Kunst in Weimar. Ein Freigeist. Als Mitglied der jüdischen Landesgemeinde Thüringens ist die 28-Jährige eine der Porträtierten in Elena Kaufmann`s Fotodokumentation „Ein Jahr mit dem Stern“.
TOP besuchte Anna Lysenko in ihrer Wahlheimat Weimar an ihrem Lieblingsort. Dem „Falken“.
Die braunen Augen, die Wangen, die schmalen Lippen, die dunklen, struppigen Haare. Die Ähnlichkeit mit der jungen Björk kann man nicht leugnen. Und gefallen würde es der isländischen Kult-Sängerin, Musikproduzentin, Komponistin, Songwriterin und Schauspielerin, bestimmt auch in Weimars Kultkneipe schlechthin, dem „Falken“. Denn wer laut eines Gästebucheintrages „die Überdosis Kultur, gepflegte Blumenrabatten, Spießbürgertum und edle Weine schnell abbauen möchte, der ist hier genau richtig. Laut, dreckig, stickig, schummrig. Eben richtig gemütlich“. Oder wie es ein anderer formuliert: „Keiner würde jemals freiwillig hingehen, und wer einmal da war, kommt immer wieder.“
Hier treffen sich Künstler, Musiker, Studenten, Professoren, Handwerker, …Ein kreatives Gemisch gegen den Mainstream in den hochpolierten Klassikerstadtgassen. Jeden Sonntag ab 19 Uhr, Ende offen, arbeitet Anna Lysenko hinter dem Tresen und spielt dabei ihre Lieblingsmusik. Auch Björk.
Der 10. Januar 2016 war auch ein Sonntag. Ein trauriger für Anna Lysenko und Millionen mehr. An diesem Tag starb David Bowie, wenn man so will ein Bruder im Geiste von Björk. Kreativ, unabhängig, unangepasst. Die meisten ihrer Kommilitonen an der Weimarer Musikhochschule Franz Liszt, an der sie seit 2012 Klavier studiert, kannten das Genie David Bowie noch nicht einmal. Anna Lysenko ist fassungslos, sie weiß jetzt, dass sie ausbrechen muss aus dem Klassik-Kokon. Sie möchte, wie Björk und Bowie, über Genres hinweg Musik machen. Ihren Bachelor-Abschluss für das Klavier hat sie in der Tasche, im kommenden Frühjahr macht sie den Master. Nach Bowies Tod begann sie noch im selben Jahr, an der Bauhausuniversität Freie Kunst zu studieren. Freie Kunst für die Musik. Das heißt für sie vor allem Improvisation und Kollaboration mit anderen Künstlern. Seit sieben Jahren spielt sie mit ihrer Klavierpartnerin Mai Shinada zusammen, Klassik an zwei Klavieren. Jetzt möchten sie das Klavier mit anderen Instrumenten, anderer Musik und zum Beispiel mit Tanz verbinden. Im Bauhausjahr 2019 wollen sie damit auftreten. Mit Otto, der Tänzer aus Kuba wird zu ihrer Musik tanzen.
Musik hat schon immer eine Hauptrolle im Leben von Anna Lysenko gespielt.
Mit sechs Jahren beginnt sie zuhause in der elterlichen Wohnung in Kaliningrad, der russischen Enklave an der Ostsee zwischen Polen und Litauen, mit dem Klavierunterricht. Die Eltern wünschen sich das. Anna macht es eher widerwillig. „So richtig verliebt“, erinnert sie sich, „habe ich mich erst in die klassische Musik, als ich sechzehn war. Bis dahin habe ich es nur gemacht, weil es die Eltern wollten.“ Der Auslöser der Liebe war die 12. Sinfonie von Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch. Als sie die von brachialen Pauken und Trommeln geprägte Sinfonie zum ersten Mal am Music College live hört, versteht sie, dass sie „ohne Musik nicht weiter leben kann“.
Nach dem College geht sie 2010 nach Berlin, um bei der bekannten Klavierprofessorin Elena Lapitskaja an der Universität der Künste vorzuspielen. „Oh mein Gott, du bist so verspannt. Wie spielst du überhaupt. Es gibt so viel Arbeit mit dir“, sagt die hochkompetente Pianistin zu ihrer 20-jährigen Schülerin. Die Schülerin bleibt ein Jahr, sie bekommt sogar den Wohnungsschlüssel der Professorin, damit sie an deren Klavier üben kann. Dreimal bewirbt sie sich mit Tausend weiteren Anwärtern an der renommierten Universität für zwei Studienplätze. Ohne Erfolg. Die Laptskaja rät ihr: „Anna, ich bin nicht die einzige Klavierlehrerin in der Welt. Bewirb dich doch noch woanders. Du musst studieren.“ Anna hat aber keine Lust mehr und schickt alle Bewerbungen viel zu spät ab. Nur an der Musikhochschule Franz Liszt in Weimar nimmt man ihre Unterlagen noch an. Weimar? Natürlich hatte sie schon von der Klassiker-Stadt gehört, Liszt, Goethe, Schiller, Bauhaus…Aber als sie 2012 das erste Mal dort ist, denkt sie erschrocken: „Was ist das für ein Dorf, ich möchte in Berlin bleiben.“ Sie spielt bei der Aufnahmeprüfung Prokofjew, und wird angenommen. Zurück in Berlin versucht sie es noch einmal an der Universität der Künste. Ohne Erfolg. Also doch das Dorf. Sie geht nach Weimar. Ein halbes Jahr später stirbt in Berlin Elena Lapitskaja. Ihr neuer Professor für Klavier an der Musikhochschule ist der Ungar Balázs Szokolay, der zur selben Zeit in die thüringische Stadt kam wie Anna. Und er hatte bei einem Professor studiert, der auch für Elena Lapitskaja unterrichtete. Schicksal?
Vielleicht. Vielleicht genauso, wie sie erst 2015 erfährt, dass sie Jüdin ist. Die Uroma hatte zwar einen typisch jüdisch-russischen Namen, aber es gab keine Beweise. Bis Annas Mutter durch Zufall Papiere fand, aus denen hervorgeht, dass die Uroma jüdisch war. Anna fährt sofort nach Erfurt in die Jüdische Landesgemeinde und fragt, ob sie auch eine Jüdin ist. Ist sie, weil die mütterliche Linie die ausschlaggebende ist. Ein paar Monate später spielt sie im Kaisersaal zum Chanukka, dem jüdischen Lichterfest. In der Gemeinde lernt sie auch die Fotografin Elena Kaufmann kennen, die aus St. Petersburg stammt, seit 2012 in Erfurt lebt und gerade an ihrem Foto-Projekt „Ein Jahr mit dem Stern“ arbeitet, für das sie Mitglieder der jüdischen Gemeinde porträtiert. So entsteht auch das Foto mit der Zigarette. „Als ich es im Buch gesehen habe, musste ich erst überlegen, wann und wo das war“, erzählt sie. Es war auf der Bachelor-Abschlussparty in Weimar, als der Vater ihr eine Zigarette anzündet. Beim Chanukka-Fest entstand das Bild am Piano, das auch im Buch zu sehen ist. „Ich fand das Projekt von Elena spannend, weil es zeigt, dass es viele interessante Leute mit interessanten Geschichten in der Gemeinde gibt. Juristen, Musiker, Maler, auch Studenten aus Weimar.“
Anna Lysenko schüttelt den Kopf, gläubig sei sie nicht. Das war sie nicht, als sie noch nicht wusste, dass sie eine Jüdin ist, und ist es auch nicht, seit sie es weiß. Sie hatte all die Jahre auch kaum darüber nachgedacht, dass sie jüdisch sein könnte, obwohl sie es ahnte. Trotzdem besucht sie oft die Landesgemeinde, auch mit ihren Eltern, wenn sie zu Besuch sind.
Sie selber besucht ihre Heimat nur noch selten. Zwei Jahre war sie nicht mehr in Kaliningrad, bevor sie diesen Sommer für zwei Wochen wieder dort war – und Weimar vermisste. Ihre Heimatstadt vermisst sie nicht, aber die Familie und Freunde. Sie fühlt sich sehr wohl in Weimar, hier lernt sie viele Leute aus unterschiedlichen Kulturen kennen und kann ihren Traum leben. Deutschland ist für sie „eine zweite Heimat“ geworden. Hier will sie bleiben, auch wenn sie „nicht mit einer rosaroten Brille“ durch das Leben geht. Dafür gebe es zu viele Probleme. Sie liest Kafka, Puschkin, Dostojewski, Kant und Nietzsche. Kunst muss ernst und ehrlich sein, das ist ihr wichtig. Es gibt aber nicht nur klassische Musik in dieser Welt. Dieser Rahmen würde sie „nur begrenzen“. Deshalb arbeitet sie nebenbei auch viel lieber im „Falken“ als an der Musikhochschule. „Weil sich hier Leute aus allen Gesellschaftsschichten treffen.“ Das inspiriert sie für ihre Musik. Die eigene Richtung, eine Nische finden, jenseits der reinen Klassik, Brücken bauen zur freien Kunst, mit anderen Künstlern zusammenarbeiten. Grenzübergreifend. Sich zwischen den Welten bewegen. Das möchte Anna Lysenko.
Wie Björk und David Bowie.
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Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus, Elena Kaufmann