Die Kraft der Sprache

Anlässlich des Jubiläums „500 Jahre Bibelübersetzung durch Martin Luther auf der Wartburg“ wurde am 31. Oktober in Eisenach das landesweite Themenjahr 2021/22 „Welt übersetzen – Sprache lesen, hören, sehen“ eröffnet. Eine Vielzahl an Ausstellungen, Konzerten, Kunstprojekten und eine begehbare Bilderbibel laden nationale und internationale Besucher nach Thüringen ein. Aber wie lebte und arbeitete der Reformator Martin Luther vom 4. Mai 1521 bis 1. März 1522 in seinem Versteck auf der Wartburg? Auf Spurensuche mit Dr. Jochen Birkenmeier, dem wissenschaftlichen Leiter und Kurator der Stiftung Lutherhaus Eisenach.

Herr Dr. Birkenmeier, vom 21. bis 23. Oktober fand auf der Wartburg eine wissenschaftliche Tagung zu Luthers Zeit auf der Wartburg 1521/22 statt. Was gibt es also Neues zu berichten über den Alltag des Reformators auf der Burg?

Wir wissen heute etwas genauer, wie das Leben zu Luthers Zeiten auf der Burg tatsächlich gewesen ist. Das ist ja auch Teil der Sonderausstellung, die die Wartburg aktuell zeigt. Es wurde im Vorfeld viel zu archäologischen Zeugnissen und historischen Akten geforscht. Das ist Detektivarbeit. Die Versorgung der Burg ist zum Beispiel gut dokumentiert. Dadurch hat man zumindest eine Vorstellung, wie viele Personen hier gelebt haben.

 

Die Versorgung war durchaus üppig. Also war sein Aufenthalt als Junker Jörg doch ein recht angenehmer?

Ja, davon hat Luther auch selbst in einem Brief berichtet. Viele Jahre hat man die Lutherstube als Einzelraum gezeigt. Das sah dann tatsächlich aus wie eine Zelle, in der man eingeschlossen ist. Das war so aber nicht, Luther hatte im Obergeschoss der Vogtei einen Wohnraum und eine Schlafkammer. Auf der Etage gab es drei solcher Wohneinheiten, die auch besser beheizt waren als die übrige Burg. Insofern erweitert sich das Bild, es war kein Gefängnis oder, wie es manchmal dargestellt wird, ein verfallener Ort. Es war eine gut funktionierende, mit wenig Personal besetzte Festung, die auch baulich immer wieder instandgesetzt wurde.

 

Als Martin Luther am 4. Mai 1521 auf dem Rückweg von Worms, wo man ihn vergeblich zum Widerruf seiner Thesen zu bewegen versuchte, südlich des Rennsteigs bei Steinbach im Glasbachgrund zum Schein von den Rittern Burkhard Hund von Wenkheim und Hans Sittich von Berlepsch überfallen und zu seinem Schutz auf die Wartburg gebracht wurde, erregte sein Verschwinden erhebliches Aufsehen. Albrecht Dürer klagte: „O Gott, ist Luther tot …?“ Die Aktion war so geheim, dass nicht einmal der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise wusste, wo Luther war (doch Friedrichs Sekretär Georg Spalatin war eingeweiht). Luther, auf dem nun nicht nur der päpstliche Bann, sondern auch die kaiserliche Reichsacht ruhte, war zu dieser Zeit vogelfrei. Ihm zu helfen, war bei Strafe untersagt, jedermann konnte ihm ungestraft etwas anhaben.

 

Wer war Luthers Ansprechpartner auf der Burg und wie hielt er Kontakt mit der Außenwelt?

Sein wichtigster Ansprechpartner, auch vom Bildungsstand gesehen, war Burghauptmann Hans von Berlepsch. Er sorgte auch für Bücher und die Beförderung der Korrespondenzen, in denen sich Luther aus der „Region der Vögel“ oder seinem „Patmos“ meldete. Luther war ein eifriger Briefeschreiber und hielt Kontakt zu den Eingeweihten: Philipp Melanchthon, seinem theologischen Begleiter, und Georg Spalatin, der sich um politische und organisatorische Dinge kümmerte.

 

Warum wurde ausgerechnet die Wartburg als Versteck ausgewählt?

Luther wollte von Worms nach Möhra reisen, wo sein Vater herkam. Die Wartburg lag auf dem Weg, zudem hatte sie den Vorteil, dass sie nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Sie war ein unauffälliger Ort, spielte militärisch keine Rolle mehr und gehörte damals zum Gebiet des ihm wohlgesinnten sächsischen Kurfürsten. Hinzu kommt, dass Luther Eisenach, seine „liebe Stadt“, aus seiner Schulzeit kannte, außerdem stammte seine Mutter von hier. Die Eisenacher, die von seiner Anwesenheit wussten, haben es nicht weitererzählt, sie schützten ihn.

 

Blieb die Anwesenheit des berühmten Gastes außerhalb der Festungsmauern wirklich unbekannt?

Man hat sich viel Mühe gegeben, Luther hat sich als Ritter gekleidet, hat sich Bart und Haare wachsen lassen. Er sagte, er erkenne sich selbst nicht mehr. Einige Leute waren schon eingeweiht, und es war eine für Luther freundliche Umgebung. Und es war ja auch nicht völlig geheim. Luther schrieb, man werde ihn irgendwo „gefenglich eintun“ und „Ich bin ein seltsamer Gefangener“. Dass man ihn verbergen will, hat er gewusst, Genaueres aber nicht. Die Entführung sollte echt wirken auf die Beobachter, er wusste aber, dass es kein echter Überfall war. Für den Kaiser war wichtig, dass Luther offiziell verschwunden war, weil er dann nicht gezwungen war, einzugreifen. Es hätte kriegerische Konsequenzen haben können, wenn er die Reichsacht mit Gewalt hätte durchsetzen müssen. Luthers Unterstützer hofften, dass sich die Lage um Luther auf der Wartburg beruhigen würde.

 

Luther hat die Burg aber auch mal verlassen…

Er hat auf jeden Fall einen Jagdausflug mitgemacht. Es gab bestimmt auch andere Gelegenheiten für ihn, die Burg zu verlassen. Ich vermute auch, dass er Leute getroffen hat, die er von früher kannte.

 

Und er reiste im Dezember 1521 inkognito nach Wittenberg und kam mit dem Auftrag zurück, die Bibel zu übersetzen. Stimmt das?

Man muss zunächst festhalten, dass Luther die Bibel nicht aus eigenem Antrieb übersetzt hat. Melanchthon hat ihm dazu übersetzen, ergab Sinn, auch aus theologischer Sicht: Wie der Evangelist Johannes in seinem Exil befand sich auch Luther an einem Ort, an dem er mit sich und Gott allein war. Luther hat aber auf der Wartburg noch viele andere Schriften verfasst, auch die Wartburg-Postille, welche er selbst für sein bestes Werk hielt. Diese Mustersammlung von Predigten legte den Grundstein für die neue evangelische Predigt, sie war Vorbild für viele andere Prediger.

Das landesweite Themenjahr heißt „Welt übersetzen – Sprache lesen, hören, sehen“. Was erwartet die Besucher im thüringischen Lutherland?

Es soll keine Wiederholung des Reformationsjubiläums werden. Der Fokus lag am Anfang auf der Sprache, denn die Bibelübersetzung ist die Grundlage, auf der sich unsere moderne deutsche Schriftsprache entwickelt hat. Im aktuellen Themenjahr beschäftigen wir uns damit, was Übersetzung insgesamt heißt. Es geht auch wie bei Cranach um die Übersetzung in das Bild, wie bei Bach in die Musik und in der Weimarer Klassik in die Literatur.

 

Die Sprache als universelles Instrument?

Genau. Wie übersetze ich die Welt in Sprache, in Literatur, in Musik, in Bilder? Das sind Wege, die Welt um uns herum zu interpretieren und auszudrücken. Die Kraft der Sprache, ihre Macht, ganz egal welche Form sie annimmt, steht im Fokus. Sprache verbindet und trennt uns, wie wir auch aus heutigen Zeiten wissen. Das Themenjahr geht nicht nur zu Luther zurück, es geht vielmehr darum: Wie ist die deutsche Sprache entstanden, wie hat sie sich entwickelt, welche Wirkung und Macht entfaltet sie?

 

Diese Macht einzusetzen, hatte Luther bestens verstanden.

Heute würde man sagen, Luther war ein PR-Profi. Er war sogar teilweise populistisch, viele seiner Thesen wurden nicht nur fachlich diskutiert, sondern auch in Flugschriften polemisch oder in derber Komik verbreitet. Er hat auch ganz bewusst geistliche Texte zu populären Melodien in Kirchenlieder umgewandelt. Er hat sich ganz genau überlegt, wie er Inhalte transportieren kann. Die Flugschriften waren die neuen Medien seiner Zeit. Luther war schneller als die alte Kirche und hatte einen demokratischen Ansatz: die Bibel für alle zugänglich zu machen. Die Kirche war damals der Gatekeeper; das wurde durch den Buchdruck aufgehoben. Die Deutungshoheit und die Einheit der Kirche wurden in Frage gestellt, es entstand Pluralität – mit ihren Vor- und Nachteilen. Wie heute in den sozialen Medien, mit denen man viel Gutes erreichen, die man aber eben auch missbrauchen kann.

 

Apropos missbrauchen: Man könnte ketzerisch sagen, Luther hat die Kirche gespalten?

Das ist ein traditioneller Vorwurf, gerade aus Sicht der römisch-katholischen Kirche. Die Frage ist doch: Wäre das nicht auch ohne Luther irgendwann passiert? Der Buchdruck war nicht mehr kontrollierbar, wie die neuen Medien heute. Darf man diese, und wenn ja, in welchem Umfang, überhaupt kontrollieren? Wer entscheidet das, wer macht die Gesetze? Diese Fragen gab es auch schon zu Luthers Zeiten. Damals gab es nur eine geistliche Wahrheit: die der katholischen Kirche. Dieses Monopol war schon zu Luthers Zeit nicht mehr zu halten. Aus dieser Erkenntnis entwickelte sich dann langsam die Toleranz.

 

Luther nutzte die griechische Bibelausgabe des Erasmus von Rotterdamm – im Sinne der Humanisten „ad fontes“ (zu den Quellen) – und hatte einen poetischen und volkstümlichen Sinn für die Sprache: „… man muß der Mutter im Hause, den Kindern auf der Gasse, dem gemeinen Mann auf dem Markt auf das Maul sehen.“

 

Würde Luther die Bibel heute anders übersetzen?

Das denke ich schon. Kein Übersetzer arbeitet im luftleeren Raum, jeder hat seine eigene Sozialisation, ist unter bestimmten Bildungsvoraussetzungen aufgewachsen und hat ein gewisses Vorverständnis mitgebracht, bevor er sich an den Schreibtisch setzt. Dann übersetzt er natürlich in die Sprache der jeweiligen Zeit. Luther hat die Sprache, die er zur Verfügung hatte, genutzt und zum Teil neue Begriffe geschaffen. Seine Intention war immer, den Leser und Hörer zu erreichen, damit Gott zum Hörer und Leser sprechen kann. Also suchte er eine Sprache, die tatsächlich auch verstanden wurde. Heute würde er das genauso machen.

Deshalb gibt es auch immer wieder Bibelrevisionen und neue Übersetzungen, weil manche Worte heute eine andere Bedeutung haben. Es gibt deshalb nicht die eine gültige Übersetzung. Wissenschaftliche Übersetzungen sind nah dran am Original, klingen aber häufig nicht so gut. Luthers Übersetzung hat dagegen eine poetische Sprache. Das ist die große Kunst dieser Übersetzung, sie verbindet beides: Sie ist inhaltlich zuverlässig und gleichzeitig hat sie eine ganz große sprachliche Kraft, die bis heute wirkt.

 

„Ich habe das Neue Testament verdeutscht, auf mein bestes Vermögen und auf mein Gewissen. Ich habe damit niemanden gezwungen, dass er es lese, sondern ich habe es frei gelassen und allein zu Dienst getan denen, die es nicht besser machen können. Es ist niemandem verboten, ein besseres zu machen. (…) Es ist mein Testament und meine Dolmetschung und soll mein bleiben und sein.“ MARTIN LUTHER, SENDBRIEF VOM DOLMETSCHEN, 1530

 

Um ihre Wirkung geht es auch im aktuell laufenden Wartburg-Experiment: Was passiert, wenn man moderne Autoren bittet, sich mit der Luther-Bibel zu beschäftigen und sich inspirieren zu lassen?

Es geht dabei um den spannenden Austausch über die Kraft von Sprache, Literatur und Religiosität. Die Autorin Iris Wolff und die Autoren Uwe Kolbe und Senthuran Varatharajah schreiben literarische Texte nach ihren eigenen Vorstellungen, es sind keine Übersetzungen. Die Aura der historischen Umgebung soll sie beim Schreiben inspirieren. Die Bibel hätte vielleicht anders ausgesehen, wenn sie Luther an einem anderen Ort geschrieben hätte. Wie stark der Einfluss der Umgebung auf die Inspiration ist, das versucht das „Wartburg-Experiment“ literarisch zu erkunden.

 

„Er ist es, der die deutsche Sprache, einen schlafenden Riesen, aufgewecket und losgebunden hat.“ JOHANN GOTTFRIED HERDER (DICHTER, ÜBERSETZER UND PHILOSOPH)

 

Mit welchen neuen Inhalten startet im April im Lutherhaus die überarbeitete Ausstellung „Luther und die Bibel“?

Wir überholen die Ausstellung erst einmal technisch. Dazu gibt es drei neue Medien-Stationen zu den Themen Musik, Eingriffe in die Bibel und der internationalen Wirkung von Luthers Übersetzung. Für die Übersetzung ins Bild haben wir seit dem vergangenen Jahr unseren „man in a cube“ von Ai Weiwei. Die zeitgenössische Skulptur wurde zum Reformationsjubiläum zum Thema „Freiheit“ geschaffen. Wir als Lutherhaus bieten gemeinsam mit der Sonderausstellung auf der Wartburg „Luther übersetzt. 500 Jahre Neues Testament auf der Wartburg“ einen sehr vielfältigen Zugang zum Themenjahr.

 

Herr Dr. Birkenmeier, vielen Dank für das Gespräch.

 

www.thueringen-entdecken.de/weltkultur-uebersetzen

www.eisenach-luther.de

 

Text: Jens Hirsch

Fotos: Mario Hochhaus, Stiftung Lutherhaus Eisenach, Wartburg-Stiftung