Die Kunst der Selbstentwirklichung
Das Instrument des Jahres 2021 ist die Orgel. Sie gilt als Königin der Instrumente und ist das größte Musikinstrument der Welt. Thüringen gilt – nicht zuletzt dank Bach und Liszt – als die zentrale Orgellandschaft der Musikgeschichte. TOP THÜRINGEN traf an der Franz-Liszt-Gedächtnis-Orgel in der Kirche Herz Jesu in Weimar Deutschlands jüngsten Orgelprofessor Martin Sturm (29) zu einem Gespräch über Geschichte, Klangfarben und eine radikale Beziehung.
Herr Sturm, wir stehen hier hoch oben auf der Empore der Kirche Herz-Jesu vor einer ganz besonderen Orgel: der Franz-Liszt-Gedächtnis-Orgel.
Die Kirche hat zu Liszts Lebzeiten noch nicht existiert, ihr Bau hat 1889 begonnen, also drei Jahre nach seinem Tod. Liszt war aber Mitglied der Weimarer katholischen Gemeinde und hat mit vielen Benefizaktionen dafür gesorgt, dass die Kirche überhaupt gebaut werden konnte. Deswegen wurde hier auch 2011 die Franz-Liszt-Gedächtnis-Orgel eingebaut. Sie ist unfassbar komplex, der ganze Kirchenraum ist mit einbezogen. Vom romantischen Gedankengang von Entrückung und Nähe, alles ist hier musikalisch realisierbar. Deswegen ist sie so besonders.
Wurde die Orgel im Sinne des Meisters konstruiert?
Ja, sie ist darauf ausgelegt, dass Werke von Liszt und der deutschen Romantik auf ihr gespielt werden. Ihr Bau unterlag einer Mischung aus Einflüssen des Spätbarocks unter Johann Sebastian Bach bis rüber zu Liszt. Es gibt aber auch Anleihen von der Domorgel in Merseburg und der Orgel in Denstedt bei Weimar, an denen Liszt tatsächlich saß. Der größte Einfluss kam aber aus der unmittelbaren Umgebung von Weimar. Das sind Erfahrungen, die man nur hier in dieser Orgellandschaft machen konnte.
Deshalb gilt Thüringen auch als die Orgellandschaft der Musikgeschichte?
Für mich ist sie das. Die Orgelgeschichte in Europa begann um 1300. Die dichteste Orgellandschaft haben wir tatsächlich in Thüringen. Das älteste Instrument steht im Schloss Schmalkalden, es stammt aus dem 16. Jahrhundert und ist vollkommen intakt. Man kann heute die Orte besuchen, an denen Bach und Liszt auf der Orgelbank saßen. Das sind auch Gründe, warum junge Menschen aus der ganzen Welt hierherkommen, um zu studieren. Noch näher an der Musikgeschichte kann man nicht sein. Um zu erfahren, was man damals gehört hat.
Was haben die Menschen denn damals gehört?
Die Orgel ist ja etwas Komisches, denn in diesem Instrument höre ich Klänge, die die Menschen vor 200 Jahren genauso gehört haben, wie sie Menschen wahrscheinlich in 300 Jahren hören werden. Das Instrument verbindet uns über die Zeit miteinander. Man kommt über die Klänge in eine Wahrnehmung … Welche Stille war damals, welche Empfindungen, Assoziationen hatten die Menschen?
Es wird aber noch absurder. Es gibt innerhalb der Orgel unheimlich viele Klangfarben, aus dem Barock, aus der Romantik. Sie wecken nicht nur Assoziationen an bestimmte Zeiten, sondern auch an Szenen, Atmosphären, Natur. Die Orgel kann von Vogelstimmen bis zum vollständigen Orchester alles abbilden.
Wird sie deshalb auch die Königin der Instrumente genannt?
Ja! Und das nicht nur aufgrund ihrer Größe, sondern ganz im Gegenteil, eher weil sie alles, was wir Menschen hören können, in sich aufnimmt. Die Orgel überhöht alles und versucht, einem einzigen Menschen, dem Organisten, die Möglichkeit zu geben, sich aus dem gesamten Fundus der hörbaren Welt zu bedienen und damit Musik zu machen. Die Orgel hält sich dabei an keine Struktur, jede einzelne Pfeife hat ihre eigene individuelle Ansprache und Prägung. Wenn wir ein Instrument für eine komplexe Gegenwart und Zukunft suchen, dann ist das die Orgel. Bis dahin, dass ich sie in einigen Teilen nicht mehr erklären kann. Ich stehe nur noch da und wundere mich, was so ein Instrument alles kann.
Sie ist also kein veraltetes Instrument, keine bloße Begleitmaschine in der Kirche?
Nein. Es gibt ja einen Grund, warum die Orgel in der Kirche beheimatet ist. Der Glaube will aufs Ganze hinaus, der Mensch verbindet sich mit etwas, das über ihm steht. Das Bild hat die Orgel als universales Instrument auch. Sie gehört aber nicht ausschließlich der Kirche, sie gehört den Menschen, wie der Glaube. Ab dem Moment, wo ein lieber Mensch stirbt oder wo ein extrem glücklicher Moment im Leben ist, da greift die Orgel. Auf Hochzeiten, bei Beerdigungen, sie ist immer da, wo es relevant und existenziell wird. Das ist faszinierend.
Verstehen Sie, was Liszt mit seiner Musik ausdrücken wollte?
Das wäre eine Anmaßung. Ich meine zu verstehen, was es in mir bewirkt. Warum das Stück so sein muss, wie er es notiert hat. Von dort aus kann ich auch nur noch Vermutungen anstellen.
Wie interpretieren Sie Ihre Aufgabe, oder vielmehr Ihre Berufung als Organist?
Ich kann am Instrument nichts ändern. Was ich spiele, kann ich beeinflussen, ich kann ganz konkret auf ein Instrument reagieren, auf einen Raum, auf die Menschen. Es gibt interpretatorische Prinzipien, klar, aber innerhalb derer darf ich das Stück selbst erleben, reflektieren und darauf reagieren. Das halte ich für eine der Grundvoraussetzungen für eine lebendige Musik. Man darf sich nicht hinter einer Interpretationsmaske verstecken, dann wird es langweilig. Dann kann ich auch einen CD-Spieler anmachen. An der Orgel sitzt aber nun mal ein Mensch und spielt als Individuum. Und dann wäre da noch die wunderbare Kombination von Interpretation und Improvisation, bei der sich Individualität und Universalität in beide Richtungen durchdringen.
Sie sitzen meistens hoch oben auf der Empore und mit dem Rücken zum Publikum. Wie kann da trotzdem eine Beziehung entstehen?
Das stimmt, der Organist ist ganz weit weg und die Besucher sehen quasi nichts. Was passiert, findet nur akustisch statt und entzieht sich meiner direkten Wahrnehmung. Genau in diesem Kontext findet aber eine Berührung statt: weiteste Distanz ist gleich konkreteste Berührung. Es ist die direkteste, radikalste Beziehung zum Menschen, zur Welt. Und gleichzeitig ist es eine Überhöhung der Welt durch die Liebe in etwas Unendliches.
Diese Überhöhung kann also auch wehtun?
Nach einem Gottesdienst kam einmal eine ältere Frau zu mir, ihr Mann war zwei Wochen vorher verstorben. Sie sagte: „Martin, da waren Klänge dabei, die haben mir im Bauch so wehgetan. Ich musste weinen, die Trauer kam so präsent hoch. Mir ging es dabei nicht gut. Darf Musik das?“
Was haben Sie geantwortet?
Natürlich darf sie das, das muss sie auch. Dann ist man am Kern. Kunst ist zweckfrei, und weil sie das ist, hat sie auch keine Grenzen. Ich möchte niemandem wehtun, ich will auch niemanden umarmen. Ich mache nur meine Kunst und hoffe, damit einen Beitrag zu leisten. Die Kabarettistin Lisa Eckhart hat etwas Geniales gesagt: „Viele Leute glauben, Kunst sei Selbstverwirklichung. Völliger Nonsens. Kunst ist Selbstentwirklichung.“ Ich bin nicht da, um mich in den Vordergrund zu stellen. Ich bin da, weil ich das tun muss. Das Orgelspielen kommt aus meinem tiefsten Inneren und ich spüre den Drang, das mit anderen zu teilen. Dann bin ich einfach nur. Das ist kein Nirwana-Denken, ich bin bewusst da.
Elias aus dem Bestseller-Roman „Schlafes Bruder“, der von Joseph Vilsmaier verfilmt wurde, hört in seiner Welt Dinge, die andere nicht hören und überschreitet die Grenzen des Erfassbaren. Er vertieft sich so in seine Orgel-Musik, dass er sich letztlich selbst zerstört.
Der entscheidende Punkt, der zur Zerstörung führt, ist, als ihm der Atheist Michel sagt: „Wer liebt, schläft nicht“. Elias’ bedingungslose Selbstaufopferung, diese Radikalität und Kompromisslosigkeit führen in seinem realen Leben zu einer unerträglichen Situation. Wir Menschen haben aber diesen einen Ort, an dem Radikalität absolut nötig ist – und das ist die Kunst. Das macht der Film sehr intelligent klar.
Sie saßen bereits mit vier Jahren neben Ihrem Vater auf der Orgelbank, haben in jungen Jahren als Organist bereits zahlreiche nationale und internationale Preise gewonnen, gleichzeitig sind Sie Deutschlands jüngster Orgelprofessor. Dazu komponieren Sie und arbeiten als Sachverständiger für Orgelbau und Restaurierung. In „Schlafes Bruder“ wirft Elsbeth Elias vor: „Du liebst deine Musik mehr als mich und als alles andere!“ Verstehen Sie Elias?
Das ist eine schwierige Frage. Ich brauche auch Zeiten, in denen ich nicht mehr verpflichtet bin, nach außen zu schauen. Ohne die könnte ich nicht leben. Wenn ich komponiere, ein Konzert spiele, dann steht die Welt um mich herum still. Ich bin als Kichenmusiker einerseits der Künstler, der als Organist in seiner Kunst aufgeht. Aber andererseits ist die reale Welt so unglaublich schön, also nicht im ästhetischen Sinne, dass man sich da doch sehr gerne aufhält. Ich musste das aber regelrecht trainieren, dass jetzt der Moment da ist, an dem ich mich für Menschen wieder öffne und greifbar bin. Man braucht natürlich Menschen um sich herum, die verstehen, dass man manchmal nicht da ist, weil man eben noch so in der Musik drinsteckt.
Am Anfang finden wohl alle Kinder gut, was der Papa macht. Aber wann haben Sie gemerkt, dass die Orgel auch Ihr Instrument ist?
Ich kann mich an keinen Moment erinnern, an dem ich nicht Musik gemacht habe. Mit drei, vier Jahren habe ich angefangen, auf einer Kindermelodika zu spielen. Das wurde mir schnell zu langweilig und ich wollte eine richtige Orgel spielen. Mein Vater hat mir dann Klavierunterricht gegeben. Ich habe mich auch früh für Noten und Kompositionen interessiert und im Knabenchor gesungen, mit zwölf habe ich den Kirchenchor geleitet. Ich habe viel ausprobiert, eine Sache war aber immer da: die Orgel. Zum Glück hatte ich die Schlüssel zur Kirche und zur Orgel. Wenn ich für mich gespielt habe, war ich in meiner Welt. Ein Schlüsselerlebnis war dann noch, als ich als Achtjähriger bei der Internationalen Orgelwoche Nürnberg zum ersten Mal zeitgenössische Musik und Orgelmusik von Max Reger hörte.
2019 haben Sie Ihre Professur für Orgel und Improvisation an der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ in Weimar angetreten. Da waren Sie gerade einmal 27. Haben Sie einen anderen Ansatz, Wissen zu vermitteln?
Ich hatte selbst wundervolle Professoren, die waren zutiefst menschlich und konnten wunderbar Wissen vermitteln. Leider hat im 20. Jahrhundert auch das künstlerische Studium eine starke Tendenz zur oberflächlichen Verallgemeinerung und sukzessiven Entindividualisierung genommen. Meine Professoren haben das schon kritisch gesehen. Ich versuche auf die Studenten einzugehen. Geht es einer oder einem meiner Studierenden nicht gut, dann werde ich an diesem Tag vielleicht nicht über Artikulationsmöglichkeiten in Takt 107 sprechen.
Sondern?
Dann weiß ich, dass vielleicht gerade jetzt der Zeitpunkt ist, über die existenziellen Bereiche des Musikmachens zu kommunizieren und diese großartige Kraft zu nutzen. Beispielsweise im Improvisieren: Wie kommen wir dahin, genau das, was gerade existenziell im Raum ist, auszudrücken? Meine Aufgabe ist es, den Studenten zu ermöglichen, einen Klangraum zu finden, um vielleicht einen einzigen Ton zu spielen, der das ausdrückt, was sie gerade fühlen. Ich kann nicht sagen, das ist der Ton. Ich kann ihnen helfen, dorthin zu kommen. Hört hin, fühlt in euch rein! Wer Musik studiert, tut das nicht, weil er das ganz nett findet, da muss es schon einen inneren Beweggrund geben. Man erlernt nicht jahrelang Theorie, Wissenschaft und Technik zum reinen Selbstzweck, damit man die Orgel schnell spielen kann. Sondern damit man in dem Moment, wo sich Menschen der Musik ausliefern, alle Möglichkeiten hat, wirklich das zu sagen, was man sagen möchte. Vom Kindesalter an bis zum Tod betreibt man Aufwand dafür, dass man an den Punkt kommt, den man eigentlich nicht mehr beschreiben kann. Das ist das Wunderschöne an der Musik, der permanent schwebende Moment.
Sie haben noch Ihr ganzes Musikerleben vor sich. Was schwebt Ihnen da so vor?
Die Orgel ist mein Leben, aber ich möchte in den nächsten Jahren wieder mehr Zeit fürs Komponieren finden. Ich arbeite gerade an einem Orgelzyklus, an neuer Kammermusik und einem Werk für Orchester und Chor. Das ist stille Schreibtischarbeit. Von Weimar aus möchte ich zudem mit neuen Generationen die Zukunft der Orgel entwickeln. Was ist Orgel für die nächsten hundert Jahre, was kann sie, was wollen wir von ihr? Die Orgel muss wieder in den Fokus der Kirchenmusik rücken. Dann muss sie aber auch so gespielt werden. Kunst ist ein wichtiger Faktor, wenn es um die Frage geht, wie wir gemeinsam unsere Zukunft gestalten wollen. Sie ist der Faktor, der das Menschsein ermöglicht.
Elias wurde von der Musik in den Tod getrieben …
Metaphorisch gesehen, weil man schlichtweg ab und zu sterben will. Jeder erlebt diese Momente, an denen es nicht weitergeht. Ich wäre an seiner Stelle auch dieser überdramatische Typ gewesen: Jetzt lege ich mich auf meinen Stein und freue mich aufs Sterben. Irgendwann hätte ich dann gesagt, Mist, ich habe Hunger, jetzt ist es aber auch wieder gut mit Drama.
Herr Sturm, vielen Dank für das Gespräch.
www.martinsturm-online.jimdo.com
Text: Jens Hirsch
Fotos: Mario Hochhaus